1. Teil
Das Tor der Geburt,
das Tor des Todes
Was geschieht, wenn man davon ausgeht, daß die menschliche Existenz mit der Geburt (oder der Zeugung) beginnt und mit dem Tode endet. Dazu zwei Lebensläufe:
Als M. auf die Welt kommt, ist sein Vater schon lange auf und davon. Seine Mutter, er ist ihr siebtes Kind, verlässt das Krankenhaus in einer Grossstadt im ehemaligen Ostblock sobald sie kann, ohne ihn mitzunehmen. M. kommt nun in ein Säuglingsheim zu vielen anderen Leidensgenossen. Das Personal dieses Heimes ist völlig überfordert. Das Milchfläschchen wird ihm nur ins Bett gelegt, lernt er nicht schnell, daran zu saugen, wird er nicht mehr lange leben. Drei Jahre bleibt er in diesem Heim, schliesslich darf er eine Stunde pro Tag aufstehen. Der Arzt bescheinigt ihm einen psychomotrischen Entwicklungsgrad von 30% eines normalen Kindes. Dann kommt er in ein Heim, in dem er bis zum Schuleintritt bleiben soll. Jetzt darf er zwar herumlaufen, aber das Heim, ein ehemaliges Justizgebäude in einer Kleinstatt, dürfen die Kinder nicht verlassen, weil die Bevölkerung sich dagegen wehrt.
So fanden ihn seine neuen Eltern in dem Heim: Ein viereinhalbjähriges Häuflein Elend! ‑ Jetzt lebt er in der Schweiz: und ist ein kerngesundes Goldstück voller Pfiffigkeit und Phantasie….
Aber die Geschichte hätte auch so weitergehen können, wie für viele seiner Leidensgenossen:
Hospitalismus-geschädigt, ungeliebt, verlassen sie das letzte der Heime und landen im besten Falle im Schwarzhandel, normalerweise jedoch in Kriminalität und Prostitution.
Wenn die Existenz doch erst mit der Zeugung beginnt, stellt sich dann nicht notwendig die Frage:
– Womit haben die Beiden ein so verschiedenes Schicksal verdient?
Wenn die Existenz des Menschen erst mit seinem Leben auf der Welt beginnt, ist es dann nicht ungerecht, wenn der eine am Rande der Gesellschaft überleben muß, während der andere in ihrer Mitte getragen wird?
Sind das Fragen, die man als Mensch nicht stellen darf, weil es in Gottes Hand liegt, welche Fügung ein Leben bekommt? Aber das Problem wird dadurch nicht anders, daß man das Fragen verbietet. Wollte denn Gott wirklich einen unmündigen Menschen als Krone seiner Schöpfung schaffen, dem er die Erkenntnis dieser göttlichen Welt verbietet?
Betrachten wir nun das andere „Ende“: Wenn man sein Leben hinter sich hat und seiner Umgebung wegen körperlicher und seelischer Gebrechen beginnt zur Last zu fallen, ist es da nicht besser ‑ wie holländische Politiker in Erwägung zogen ‑ jedem Menschen über siebzig die „Todespille“ zur Verfügung zu stellen?
– Wenn nun sein Tod auch seine Existenz beenden würde, wäre doch sein Leben im hohen Alter ganz sinnlos.
Wäre es nicht besser, er fiele seiner Umwelt nicht zur Last und stürbe einfach, wenn seine Kräfte ihn verlassen?
Etwa im Sinne des Baccalaureus im Faust:
Bacc.: Gewiss! das Alter ist ein schleichend Fieber
Im Frost von grillenhafter Not
Hat einer dreissig Jahr vorüber
So ist er schon so gut wie tot.
Am besten wärs, euch zeitig totzuschlagen.
Mephisto: Der Teufel hat hier weiter nichts zu sagen.
Wenn wir die menschliche Existenz mit der Geburt oder Zeugung beginnen lassen, wird das Leben ungerecht, wenn wir sie mit dem Tod enden lassen, wird das Leben sinnlos.
– Aber endet die Existenz mit dem Tode?
Nun die Frage wird wohl jeder religiös gestimmte Mensch verneinen, aber wie können wir sicher sein, ob die religiöse Überlieferung wirklich die Wahrheit sagt.
– Kann man sich auch als ungläubiger Thomas über diese Frage einen Weg bahnen, der zu Anworten führt?
Der ersten Frage – nach der Existenz vor der Geburt – ist man sicher viel eher bereit, eine abschlägige Antwort zu erteilen, denn da gibt es ja nicht einmal eine allgemeine religiöse Überlieferung.
Schicksalsereignisse
Wohl in jedem Leben lassen sich Schicksalsereignisse finden, bei denen man den Eindruck haben kann: «Wenn ich wählen darf, dann – wenn es möglich ist, – bitte nicht noch einmal! Aber es war doch gut, daß es geschehen ist. Wenn ich das nicht durchgemacht hätte, wäre ich nicht der, der ich heute bin.»
Zur Illustration ein Erlebnis aus meinem Leben:
Als ich 14 Jahre alt war, hatte ich mir einen Oszillographen gebaut. (Eine Art Fernseher, der anstelle der Bilder elektrische Schwingungen auf seiner Bildröhre darstellen kann.) Beim Zusammenschrauben mußte das Gerät umgedreht werden und dabei passierte es: ich bekam einen solchen elektrischen Schlag, daß der Strom von der einen Hand über meinen Arm durch den Brustkorb und das Herz zur anderen Hand floß. Die Muskeln verkrampften sich: Ich konnte das Gerät nicht fallen lassen: Der Strom floß immer weiter. Glücklicher Weise konnte ich noch aufstehen und eine schnelle Drehung machen, sodaß das Gerät aus meinen Händen flog… Ein schwerer Elektroschock mit Herzflimmern, und Angstvorstellungen waren die Folge.
Erst viel später ging mir der Sinn dieses Schicksalschlages auf – wenigstens anfänglich: Ich war damals ein glühender Verehrer der Physik und ihres materialistischen Weltbildes. Meine Mutter erzählte mir, ich sei plötzlich mit Fragen wie: «Warum ist das eigentlich alles so…?» an sie herangetreten.
Offenbar hatte der Schock meine so festgefügte Vorstellungswelt gründlich erschüttert und Schichten der Weltempfindung freigelegt, die mir früher unzugänglich waren. Der Schock hatte dabei wohl die Aufgabe eines Auslösers. Heute bin ich über diesen wohl notwendigen Schock als Auslöser froh, – aber, bitte nicht noch einmal!
Ähnliche Situationen sind wahrscheinlich zunächst leichter in der ferneren Vergangenheit zu finden, sind wir doch mit den kürzlich «erteilten» Schlägen oft noch zu sehr verbunden, als daß wir schon gelassen auf sie blicken könnten.
An diesem Punkt unserer Betrachtungen stellen sich zwei Fragen:
– Haben alle Ereignisse einen entwicklungsbestimmendem Einfluß?
– Woher weiß das Schicksal, was für mich gut ist?
Gehen wir noch einen Schritt zurück und fragen uns:
– Wie kam es zu dem Ereignis?
Das läßt sich bei manchen Ereignissen gut sagen, bei anderen weniger. Dennoch möchte ich an einem Beispiel schildern, was sich bei den meisten Schicksalssituationen – mehr oder weniger verborgen – auffinden läßt.
Nach meiner Schulzeit wollte ich unbedingt sozial tätig werden. Ich erhielt Gelegenheit zur Mitarbeit in einer soeben von der Universität eingerichteten Beratungstelle für Drogenabhängige und Dissoziale. Vorher mußte ich allerdings erst in einem kleineren Behördenkrieg darum kämpfen, diese Stelle zu bekommen.
Ich hatte Nachtdienst als einer der Jugendlichen die Nerven verlor, weil er seinen Mantel in einem Lokal verwechselt hatte. Er hatte dadurch keinen «Stoff» mehr. Er begann nun die Räume zu demolieren. Da ich allein Nachtdienst hatte, mußte ich – der ich kaum älter war als er – die Polizei anrufen und ihn in die benachbarte Nervenklinik einliefern lassen. Allerdings kam die Polizei erst nach 20 Minuten! Wie man sich leicht denken kann, ging er auch nicht freiwillig mit, sodaß er von den Polizisten kampfunfähig «gemacht» wurde, um es gelinde auszudrücken. Das letzte, was er mir zubrüllte war: «Ich schlag dich tot, wenn ich wieder herauskomme!». Ich habe die Nacht nicht mehr geschlafen und ihn dann morgens aus der Nervenklinik abgeholt….
Als dann in einer weiteren Nacht – ich hatte wieder allein Nachtdienst – die Stereoanlage gestohlen wurde, und mir morgens ein Jugendlicher andeutete, ich wäre jetzt wohl nicht mehr so «beieinander», wenn ich letzte Nacht aufgetaucht wäre…, entschloß ich mich, die Stelle zu wechseln.
Ich hatte nun alles unternommen, um diese für mich sehr unangenhme Erfahrung machen zu müssen, wie anders die Wirklichkeit ist, als ich sie mir vorstellte. Und dies gilt sowohl im Hinblick auf jene Welt, die mir bis dahin verschlossen war, als auch auf die mir zur Verfügung stehenden Kräfte und Fähigkeiten. Ich erlebte meine Grenzen und verlor Illusionen.
Spüren wir nachträglich ein solches Ereignis nocheinmal ab, so kann deutlich werden, daß hier etwas in unser Leben eingreift, das uns näher zu uns selbst führen will, uns reifer werden läßt. Ein Stück weit sind wir dem, was der Mensch dereinst werden kann, näher gerückt. Mit anderen Worten: Ideale, in jugendlicher Begeisterung gebildet, werden revidiert, geklärt, ausgestaltet, reicher und realistischer.
Gehört mein Schicksal zu mir?
Ich möchte nun eine Frage. die mir in vielen Gesprächen bisher mit nein beantwortet wurde. Die Frage lautet:
– Würden Sie Ihr Schicksal mit dem Schicksal eines anderen Menschen tauschen wollen?
Also die Frage lautet nicht: Können Sie sich vorstellen, daß jemand Anderes mit einem anderen Menschen sein Schicksal tauscht, sodern ob Sie Ihr ureigenes Schicksal mit allen Konsequenzen mit dem eines anderen Menschen tauschen wollen. Das heißt: Man würde dann also fernerhin nicht mehr die Ereignisse durchmachen, die man ohne den Tausch durchgemacht hätte, sondern alle Freuden und Leiden des anderen Menschen übernehmen.
Zur Erläuterung dieser Situation kann vielleicht die folgende Parabel helfen:
Ein Mensch im Himmel
Ein Mensch kommt mit seinem Kreuz beladen zum Himmel. Er klopft an das Himmelstor und Petrus öffnet ihm. Der Mensch wartet gar nicht ab, ob er von Petrus gefragt werde, sondern ruft gleich: «Petrus, Petrus, mein Kreuz ist mir zu schwer! Ich muß ein anderes haben». Petrus antwortet nicht, führt ihn aber in den Garten der Kreuze. Der Mensch weiß nun, daß er diesen Garten nicht ohne ein Kreuz verlassen darf. Er prüft also genau, denn er muß damit ja in seinem weiteren Leben zurecht kommen. Die Menge der Kreuze ist groß: Es gibt da Holzkreuze, Eisenkreuze, Steinkreuze. Kreuze mit langem Querbalken, Kreuze mit mehreren Querbalken, bei einigen ist ein Ende länger als das andere, bei wieder anderen ist der Querbalken nicht richtig fest, usw. Der Mensch prüft also in der ungeheuren Menge der Kreuze gründlich. Mit den allermeisten ist er nicht zufrieden. Lediglich eines sagt ihm zu, allerdings hat er das Gefühl, daß es doch auch reichlich schwer sei, immerhin schien es ihm seiner würdig. Er nimmt also dieses Kreuz im Wissen, daß es eine anstrengeden Aufgabe werden würde, und kommt zu Petrus zurück an das Himmelstor, glücklich lächelnd, fast etwas stolz, geht er an Petrus vorbei. Petrus aber schweigt weiterhin und schaut ihn ernst etwas mit dem Kopf nickend an und schließt hinter ihm das Tor. Der Mensch wundert sich nun aber doch über den schweigsamen Türhüter. Unter diesen Gedanken betrachtet er das Kreuz genauer. Es war das gleiche Kreuz, daß er mitgebracht hatte: Sein eigenes.
Mein Schicksal und Ich
Wenn wir nicht bereit sind unser Schicksal mit jemand anderem zu tauschen, dann müssen wir wohl ein besonderes unverwechselbares Verhältnis zum Schicksal haben. Es ist wie ein Teil von uns selbst. Etwas, das uns in Situationen führt, die zu Prüfungen werden können und uns – ob durch Bestehen oder Scheitern – erziehen. Auch das Scheitern kann uns weiter helfen, wenn wir uns dadurch wahrhaftiger kennenlernen, und wir die Kraft finden, uns um die Verwirklichung des Menschenbildes zu bemühen, das wir als Ideal in uns tragen können.
Wieder kommen wir zu weiteren Fragen:
– Wie zieht das Schicksal die Ereignisse herbei?
– Wie weiß das Schicksal, was für mich gut ist?
Wir wollen sehen, ob sich beide Fragen durch Beobachtungen im Alltag beantworten lassen.
«Technik» des Schicksals
Betrachten wir zwei Lebenssituationen, die – leider – recht oft vorkommen:
Mir ist es häufig passiert, daß ich eines Tages von jemanden angesprochen wurde: «Mein Lieber: Entschuldigung, aber du solltest endlich damit aufhören, daß du immer …» und nun kommt eine Eigenschaft, die ich mir tatsächlich abgewöhnen sollte. Das Überraschende ist aber, daß am gleichen Tag, mit fast den gleichen Worten mich auch noch ein Anderer anspricht und mich auf den gleichen Fehler hinweist. Die Beiden kannten sich jedoch nicht. Sie hatten sich also nicht verabredet.
– Wie kann es zu diesen nicht so seltenen Zusammentreffen kommen?
Ich bin mit jemandem im Gespräch und lasse ganz beiläufig eine Bemerkung fallen, von der ich dann aber feststellen muss, daß sie meinen Gesprächspartner zutiefst verletzt. Ich ahnte gar nicht, das ich ihn damit derart treffen würde. Ich hätte es ihm doch sonst nicht gesagt! Alle Versuche, es wieder gutzumachen, schlagen ziemlich fehl: Er ist getroffen.
– Wie kann das sein, daß ich meinen Gesprächspartner derart verletze, obwohl ich ihn doch gar nicht gut kenne?
An dieser Stelle möchte ich einen «Probegedanken» anbieten, einen Gedanken, den man auf die Probe stellen möge, ob er zutrifft. Kann er Klarheit in das eigene Leben bringen? Dann kann man ihn sicher weiter prüfen. Er sei in folgende Fragen gekleidet:
– Könnte es sein, daß ich gewöhnlich von mir nur im Bewußtsein habe, was in meinem Leib steckt, – daß das aber noch nicht alles ist?
– Könnte es nicht sein, daß ein Teil von mir auch ausserhalb meines Leibes in meiner Umgebung lebt? (Lassen wir zunächst noch ganz offen, wie wir den Teil nennen wollen.)
Unter dieser Voraussetzung könnte man die beiden eben beschriebenen Situationen so verstehen: Ich – in einem unbewußten Teil – bin es selbst, der sich mit Hilfe der beiden anderen Menschen die Verhaltenskorrektur zufügt. Und umgekehrt, der andere braucht mich, um sich etwas klar zu machen; da es stimmt, was er sich mit meiner Hilfe selbst sagt, fühlt er sich so getroffen, und ist mir deshalb oft besonders böse, weil er meint, ich wollte ihn verletzen. Es könnte also sein, daß wir nur zum Teil ein Bewußtsein von uns selbst haben: Der andere Teil lebt in unserer Umgebung und zieht die Ereignisse herbei, die uns treffen.
Die nebensächlichen Ereignisse des Alltags zeigen, daß ich mich besonders über das am Anderen ärgere, was ich bei mir selbst noch nicht in Ordnung gebracht habe. Da wo ich etwas bei mir selbst geordnet habe, da werde ich Anderen gegenüber wieder großzügig: Ich weiß nun wie schwer es ist, diesen Fehler zu überwinden. Aber da, wo mir das noch nicht gelungen ist: oh, der arme Betroffene, er bekommt den Ärger, den ich eigentlich über mich habe, noch gleich mit ab! (Deshalb habe ich mir zur Regel gemacht: Wenn ich mich über irgend etwas außergewöhnlich aufrege, mich zu fragen, ob ich mich nicht besser in dieser Sache über mich aufregen sollte.) Überhaupt kann die Frage, warum passiert gerade mir das, sehr fruchtbar für die Selbsterkenntnis werden. Insbesondere in Situationen, in denen man objektiv ungerecht behandelt wird. Sagen wir etwa, man wird belogen. Natürlich muß man der Lüge entgegentreten und sie korrigieren usw. Aber gerade da kann man sich doch fragen:
– Warum trifft es gerade mich?
– Was will mir das sagen?
Auf diese Weise kann man eine Art partnerschaftliches Verhältnis zu seinem Schicksal gewinnen. Es ist wie ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler. Der Lehrer handelt zwar (die Ereignisse treten ein), er antwortet mir aber nur, wenn ich ihm Fragen stelle. Und wenn es mir gelingt, – früher oder später – durch solches Fragen mich an den Sinn eines Ereignisses heranzutasten, dann wird dieses Gespräch immer intensiver.
Aber auch das Gegenteil ist möglich: Ich kann mich gegen mein Schicksal betäuben. Eine grobe Form der Betäubung ist die Droge (Alkohol, Rauschmittel, Fernsehen) viel gefährlicher aber ist die Betäubung, wenn ich meine: Hier liegt ein Irrtum des Schicksals vor, dies Ereignis trifft den Falschen! Ich will an dieser Stelle nicht behaupten, daß eine solche Situation nie eintreten kann – wer kann das schon sagen? Aber wenn ich mir das einwenden will, sollte ich sehr auf der Hut sein: Gerade dies Geschehen könnte doch besonders für mich bestimmt sein.
Woher weiß das Schicksal,
was für mich gut ist?
Wenn ich an meine Klassenkamaraden zurückdenke, oder auch an Freunde aus der Kindheit und der späteren Zeit, insbesondere solche, mit denen ich gut zusammenarbeiten konnte, so würde ich gern diese Menschen wiedertreffen, um zu schauen, wo sie heute stehen und – wenn möglich – mit ihnen weiterarbeiten. Aber die Lebenswege haben sich getrennt. Ich bin aus der Heimatstadt weggezogen und habe den Kontakt verloren. Trotzdem bleibt eine Sehnsucht, irgendwie am Begonnenen weiterzuarbeiten, bestehen.
Aber auch zu Menschen, an denen wir schuldig werden, kann eine solche Sehnsucht entstehen: Nehmen wir an, jemand ist für einen Moment im Verkehr unaufmerksam und überfährt einen anderen. Dieser stirbt an den Folgen seiner Verletzung. Wenn dieser Autofahrer nun kein oberflächlicher Mensch ist, so kann er starke Schuldgefühle bekommen. Es kann sich der starke Wunsch entfalten, das irgendwie wieder gut zu machen. Aber wie soll er?
Vor einigen Jahren fuhr ich mit meiner Frau von Konstanz nach einem Vortrag nach Hause. Es war im Winter bei einsetzendem Schneetreiben, da sahen wir auf der anderen Strassenseite ein Auto – Warnblinker in Betrieb – mit vier, bei der nächtlichen Beleuchtung, finsteren Gestalten. Obwohl meine Frau sagte: Du, die sehen unheimlich aus, hielt ich an und erkundigte mich, was denn sei. Die Vermutung war: Kein Benzin. Ich holte also meinen Reservekanister heraus setzte den Einfüllstutzen auf und füllte ein… Die «finsteren Gestalten», die bei genauerem Hinsehen ganz nett waren, bestanden darauf, daß ich 5 SFr. für die 5 Liter Benzin nehme. Als der Wagen dann immer noch nicht ansprang, empfahl ich, die Zündkerzen zu überprüfen; ich müsse jetzt jedoch wieder weiter, es seien noch 200 Km zu fahren. Im Rückspiegel sah ich, wie sie ihr Auto in den nächsten Ort schieben mußten. In der nächsten Woche sagte mir meine Frau nach dem Tanken: «Der Reservekanister war übrigens voll!» Das durfte doch nicht wahr sein: Ich hatte eine Gummidichtung beim Einfüllen übersehen, dadurch hatten die Vier nicht nur kein Benzin erhalten, sondern gaben mir noch 5 SFr. dafür, daß sie ihren Wagen in den nächsten Ort schieben mußten… Das würde ich gern in Ordnung bringen. Aber wie soll ich sie wiederfinden? (Vielleicht liest ja einer von ihnen dies Büchlein.)
Solchen Stimmungen kann man immer häufiger begegnen, wenn man darauf zu achten beginnt. Schon während des Lebens findet man in sich Anlagen, mit anderen Menschen wieder zusammen zu kommen. Wir wollen nun nach einer Zwischenbetrachtrung sehen, wie sich diese Sehnsucht nach dem Tode ausnimmt.
Zusammenfassung
Wir begannen damit, uns auszutauschen über die Frage: Was passiert, wenn man das Tor des Todes und das Tor der Geburt zuschlägt. Und eine Antwort war, daß das Leben sinnlos und ungerecht wird. Damit das nicht die einzig mögliche Lebensanschauung bleibt, haben wir dann gemeinsam begonnen, verschiedene Erlebnisse zu betrachten.
So kann man nun Erlebnisse finden, von denen man sagen kann: «Bitte nicht noch einmal, aber es war doch gut, daß es passiert ist. Ich wäre sonst nicht der der ich jetzt bin. Und was das Erlebnis aus mir gemacht hat, das kann ich bejahen.»
Weiter scheint es auch, als ob wir unsere Schicksalsereignisse (unbewußt) aufsuchen, als ob wir gar manches – ohne das ganz zu wissen – in Bewegung setzen, um an die Stelle zu kommen, wo es dann «passiert».
Es entstand dann die Frage, ob man sein Schicksal mit dem eines Anderen tauschen würden. Es zweigt sich, daß diese Frage normalerweise verneint wird. Das aber heißt: Wir und unser Schicksal gehören untrennbar zusammen.
Um die Art, wie Schicksal sich vollzieht, verstehen zu lernen, haben wir zwei Gesprächssituationen betrachtet, aus denen sich ergab: Wir leben bewußt innerhalb unserer Haut, aber gleichzeitig unbewußt auch in den anderen Menschen. Wir verständigen uns mit uns selbst durch ihre Hilfe.
Ich hoffe, Sie können sehen, daß wir an dem Vollzug unseres Schicksals vielmehr beteiligt sind, als das zunächst schien. Ja, ich gehe sogar soweit, zu sagen, daß wir da, wo wir eine Beteiligung – im weitesten Sinne – ablehnen, wir uns gegen unser Schicksal betäuben und uns blinder machen als wir sind!
Hinter allem steht aber die schon mehrfach gestellte Frage: Woher weiß das Schicksal, was für mich gut ist? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn wir unsere Betrachtung über den Tod hinaus anstellen.
Um die nachtodlichen Ereignisse besser beschreiben zu können, habe ich noch einige Seelenstimmungen angedeutet: Das Bedürfnis mit Menschen wieder zusammen zu kommen, mit denen man etwas zu tun hatte, im Sinne sowohl eines fruchtbaren Zusammenarbeitens als auch eines Wiedergutmachens.
Welche Zugänge gibt es
zum Leben nach dem Tod ?
Es gibt ganz verschiedene Zugänge zum Leben nach dem Tod:
– Der Zugang, den jeder irgendwann haben wird, wenn er stirbt.
– Die Beschreibungen derer, die bereits klinisch tot waren und reanimiert wurden.
– Der Zugang mit den Hilfsmitteln der Hypnose
– Der geisteswissenschaftliche Zugang dadurch, das man seine Fähigkeiten schult, Geistiges wahrzunehmen.
– Der indirekte Zugang, der für jeden Menschen gangbar ist, wenn er bereit ist, die Erfahrungen des Alltags im Lichte der Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Forschungen zu betrachten.
Hier versuchen wir diesen letzteren Weg, ein Stück zu gehen. Die beschriebenen Erfahrungen können uns auf Übersinnliches hinweisen. Wenn ich nun dazu übergehe, dieses Überinnliche selbst zu beschreiben, so tue ich das in der Hoffnung, daß man diese Skizzen als Angebote auffaßt, sein Leben unter solchen Gesichtspunkten zu betrachten und zu prüfen, ob sich diese Gesichtspunkte im eigenen Leben als fruchtbar und ordnend erweisen, oder ob sie eher das Leben als chaotisch oder weltfremd darstellen.
Eine große Hilfe im Beschreiben dieses Weges sind die Forschungen Rudolf Steiners (1861–1925), dem Begründer der Anthroposophie. Ihm verdanken wir Einsichten in die übersinnliche Welt und damit die Kenntnis der geisteswissenschaftlichen Hintergründe (vgl. seine Bücher im Literaturverzeichnis S. 15), und eine genaue Beschreibung, wie man diese Einsichten gewinnt.
Nach dieser Zusammenfassung können wir nun den beschrittenen Weg fortsetzen und uns der Zeit nach dem Tode zuwenden.
Schlaf und Tod
Zwischen Schlaf und Tod gibt es manche Verwandtschaften. So wird auch gesagt: Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes.
Was kann damit gemeint sein? Betrachten wir den Schlaf: Tagsüber gehen wir unserem Tagewerk nach und verbrauchen unsere Kräfte. Wir legen uns abends ermattet nieder und verlieren das (Tages)-Bewußtsein: wir schlafen ein. Am Morgen wachen wir durch den Schlaf – mehr oder weniger – erquickt wieder auf und setzen unser Tagewerk mit neuen Kräften dort fort, wo wir es am Vortage unterbrochen haben.
Auch im ganzen Leben arbeiten wir an unseren Aufgaben und verbrauchen unsere Kräfte. Im Alter sind wir davon ermüdet; wir sterben und verlieren das Tages-Bewußtsein. Nun verbringen wir eine Zeit zwischen Tod und neuer Geburt, in der wir unsere Lebens- und Schicksalskräfte erneuern, um dann mit einer neuen Geburt wiederum verjüngt da fortzusetzen, wo wir früher aufgehört haben. Allerdings fehlt uns zunächst im Gegensatz zum Schlaf die bewußte Erinnerung an das Begonnene.
Diese Zeit zwischen Tod und neuer Geburt läßt sich nun – auf der Grundlage der Forschungen Rudolf Steiners – wie folgt skizzieren:
Nachdem ein Mensch über die Schwelle des Todes gegangen ist, hat er – etwa so lange, wie man ununterbrochen wach sein kann, ca. 3 Tage – sein ganzes Leben wie ein Panorama in Bildern um sich. Etwas, das auch von Menschen berichtet wird, die plötzlich, z.B. durch einen Absturz im Gebirge, an die Todesschwelle kamen. Nach dieser Zeit, nach der dann auch die Bestattung stattfindet, lebt der Mensch nun eine Zeit lang (etwa solange wie er im Leben geschlafen hat, ca. 1/3 der Lebenszeit) in einem Bewusstsein, das gerade die Umkehrung seines gewöhnlichen Bewußtseins ist. Im normalen Leben lokalisieren wir uns innerhalb unserer Haut, aber nicht in unserer Umgebung. Wir haben aber schon gesehen, daß wir auch ausserhalb unserer Haut im Schicksalsvollzug leben, allerdings ohne (gewöhnliches) Bewußtsein (s. S. 5). In der zweiten Phase nach dem Tode, sie wird auch ‚Kamaloka‘ oder im katholischen Bereich: ‚Fegefeuer‘ genannt, erwacht der Mensch nun in dem Bewußtsein, das zu Lebzeiten für ihn unbewußt geblieben ist. Jetzt erfährt er seinen Leib (genauer: dessen geistiges Bild) als Aussenwelt und die Umgebung seines Leibes als Innenwelt.
Damit erlebt er nun rückwärts alles, was er während des Lebens getan und gelassen hat, aber so, daß er jetzt der Empfänger seiner irdischen Taten wird. Etwas derb gesagt: Die Wirkung der Ohrfeige, die er im irdischen Leben einem Anderen verabreichte, erleidet er nun selbst.
Das hat für den Menschen nach dem Tod sehr tiefgreifende Folgen: Im Angesicht hoher geistiger Wesenheiten erlebt er, wie er war – und wie er hätte sein können. Es ist wohl nicht so, daß vor dem Menschen ein strafender Gott steht, der ihm sein Sündenregister vorliest. Es ist – in gewissem Sinne – viel schlimmer: Der Mensch ist es selbst, der sich im Angesicht der Gottheit beurteilt und richtet.
Für denjenigen, für den das Christentum Bedeutung hat, kann man auch sagen: Im milden Blick des Christus richtet sich der Mensch selbst, indem er an diesem Menschheitsrepräsentanten sieht, wie sein Verhalten hätte sein müssen, damit er jetzt sich nicht schämen muss, und – wie es tatsächlich war.
Das löst in seiner Seele das tiefe Bedürfnis aus: Das will ich besser machen! Aus diesen Erlebnissen entsteht im Laufe der Entwicklung zwischen Tod und neuer Geburt der starke Wunsch, sich wieder auf der Erde zu verkörpern, mit gerade den Menschen zusammen, mit denen man zu tun hatte, um wieder gut zu machen, aber auch um weiterzuarbeiten an der eigenen Entwicklung und, wo möglich an der Menschheitskultur.
So wird der Mensch selber Urheber seines Schicksals. Er gibt selbst die Vorgaben für die Ereignisse, die er im nächsten Leben suchen will. Selbstverständlich gehört zur Ausgestaltung des Schicksals eine viel höhere Weisheit, als uns Menschen möglich ist. Die Anordnung und «Koordination» der Schicksale der verschiedenen Menschen einer Schicksalsgemeinschaft obliegt nun hoch entwickelten geistigen Wesen. Wir Menschen hätten z.B. gar nicht den Überblick, geschweige denn die Kraft, die es zur Verwirklichung der Schicksalsströme braucht. Aber es ist an uns, die Keimpunkte und Zielrichtungen zu setzen, an die die Tätigkeit höherer Wesen anknüpft.
Da wir unser Schicksal in diesem Sinne zwischen Tod und neuer Geburt selbst bestimmen, wird zugleich auch verständlich, warum wir ein so enges Verhältnis zu ihm haben und weshalb das Schicksal «so genau weiß», was für uns gut ist.
Es werden damit die Taten des letzten Lebens – im Guten wie im Bösen – die Keime für die Schicksalsereignisse des nächsten Lebens.
Vielleicht entsteht nun doch die Frage: Muß ich darüber überhaupt etwas wissen?
Schließlich ist das Leben doch bisher über Jahrtausende auch ohne dieses Wissen ausgekommen.
Welche konkrete Hilfe in dem Wissen um wiederholte Erdenleben liegen kann, möchte ich Ihnen an einem Beispiel demonstrieren.
Mönch und Ketzer
Ein Beispiel
Im Mittelalter – noch vor der Scholastik – lebte ein Mönch und ein Ketzer. Der Mönch wurde aufgefordert, die ansässigen Bischöfe durch seine Predigt zu unterstützen, da er für seine Wortgewalt sehr bekannt war. So zog der Mönch in die Gegend des Ketzers, der schon eine ansehnliche Schar um sich gesammelt hatte. Die Lehren des Ketzers waren aus der Sicht des Mönches gottlos: Sie leugneten die Notwendigkeit der Sakramente, den Sinn des alten Testamentes und die Wirklichkeit des Kreuzes. Der Ketzer brandmarkte die Verweltlichung der Kirche und sprach ihr jedes Recht ab, die Nachfolge des Petrus fortsetzen zu können. Für ihn war der Christus ein hohes Sonnenwesen, das nie die Schmach eines Kreuzestodes auf sich genommen haben konnte. Er empfand das als ganz und gar gottunwürdig. Er wollte mit seinen Gesinnungsbrüdern in möglichster Reinheit leben. Armut und Keuschheit waren Grundpfeiler ihrer praktischen Lehre.
Der Mönch seinerseits hat den Ketzer persönlich nie kennen gelernt, er hat den kirchlichen Berichten über ihn vertraut und darauf hin begonnen, gegen ihn zu predigen. Etwa so: «Hier habe ich Brote, ich werde sie jetzt weihen, wenn die Kranken davon essen und gesund werden, dann sind die Lehren des Ketzers Irrlehren.» Ein dabei stehender Bischof wollte sicherheitshalber einflechten: «Wenn die Kranken im Glauben essen.» – wohl um bei einem Scheitern dem Mönch das Ansehen zu wahren. Der aber widersprach: «Nein, jeder, der ißt wird gesund werden». Die Wirkung war gewaltig. Die Leute bekehrten sich auch bevor die Menschen gesund wurden.
Der Ketzer mußte fliehen, wurde schließlich aber doch gefangen genommen und verbüßte eine lebenslängliche Haft.
Sieben Jahre nach dieser Zeit stirbt der Mönch und erlebt nun in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt, daß er durch seine Predigten, den Ketzer an der Verwirklichung seiner Ziele gehindert hat. Die Ziele waren von den seinen gar nicht so verschieden. Und er erlebt auch, daß er ihn bekämpft hat, auf Grund von Darstellungen, die nicht genügend der Wirklichkeit entsprachen.
Im nächsten Leben treffen die beiden sich wieder. Der Ketzer ist jetzt als Frau verkörpert, der Mönch nocheinmal als Mann. Sie treffen sich in einem Betrieb wieder, indem nun der Ketzer der Vorgesetzte des Mönches ist. Der Mönch hat das Anliegen – als Folge seiner nachtodlichen Erlebnisse – alles zu tun, damit der Ketzer diesmal seine Ziele erreicht.
Der ehemalige Ketzer seinerseits begegnet dem ehemaligen Mönch mit ausgesprochener Zurückhaltung, das liebste wäre ihm gewesen, der Mönch hätte den Betrieb nach kurzer Zeit wieder verlassen. Der aber blieb. und alles, was er für seine Vorgesetzte unternahm, betrachtete diese so mißtrauisch, als ob es sich gegen sie richtete. Es kam, wie es in solchen Fällen oft kommt: Die beiden hatten sich nach kurzer Zeit gründlich verkracht. Der Mönch war nicht bereit hinzunehmen, daß ihm alles, was er für den Ketzer tat, ins Gegenteil verkehrt wurde.
Da beide aber von der Tatsache der wiederholten Erdenleben überzeugt waren, bekam der Mönch nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, eine Kündigung, sondern beide gingen davon aus, daß sie hier eine gemeinsame Aufgabe hätten, etwas aus der Vergangenheit, das sie jedoch kaum ahnten, wieder in Ordnung zu bringen. So begann aus diesem Entschluß eine mehr und mehr fruchtbar werdende Zusammenarbeit der Beiden. Nach sieben Jahren starb diesmal der Ketzer.
Dieses Beispiel kann vielleicht deutlich machen, daß schon das blosse Wissen um die Tatsache der wiederholten Erdenleben lebensgestaltend den Alltag prägen kann. Welche Perspektiven sich weiter daraus ergeben können, möchte ich im zweiten Teil dieses Büchleins mit Ihnen betrachten.
Den Schluß des ersten Teiles soll ein Epitaph bilden, das Benjamin Franklin, der Staatsmann und Erfinder des Blitzableiters, als dreiundzwanzig-jähriger, er war damals Buchdrucker, als seine Grabsteininschrift dachte:
Hier ruht der Leib des Buchdruckers
Benjamin Franklin
als Speise für die Würmer
gleich dem Deckel eines alten Buches,
aus dem der Inhalt herausgenommen
und das seiner Inschrift und Vergoldung beraubt ist.
Doch das Werk selbst wird nicht verloren sein,
sondern dermalen einst wiedererscheinen
in einer neueren schöneren Ausgabe,
durchgesehen und verbessert
durch den Verfasser.
Zweiter Teil
Im ersten Teil haben wir betrachtet, wie man in Erlebnissen des alltäglichen Lebens Erfahrungen aufsuchen kann, die auf die Wirklichkeit der wiederholten Erdenleben weisen können.
Im folgenden zweiten Teil wird nun nicht mehr ein Thema entwickelt, sondern ich möchte Fragen behandeln, die mir immer wieder in öffentlichen Veranstaltungen gestellt wurden.
Wiederverkörperung und Bibel
Beginnen wir mit der Frage:
– Warum erzählt die Bibel nichts von den wiederholten Erdenleben?
Diese Frage stellte mir ein evangelischer Pfarrer in einer Aussprache. Ich antwortete ihm, daß doch z.B. bei Matthäus (11,14) steht: «Und (so ihr’s wollt annehmen) er (Johannes der Täufer) ist Elia, der da soll zukünftig sein.» oder bei der Verklärung auf dem Berge (Matth. 17,10–13): «Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elia müsse zuvor kommen? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Elia soll ja zuvor kommen und alles zurechtbringen. Doch ich sage euch: Es ist Elia schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern sie haben an ihm getan, was sie wollten… Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer zu ihnen geredet hatte.» Nun hat sich Rudolf Steiner mit dieser Frage beschäftigt, und aufgrund seiner übersinnlichen Forschungen bestätigt, daß in Elias und in Johannes die gleiche Individualität lebt. Die Antwort des Pfarrers: «Das ist nicht so verwunderlich, denn Elia ist nicht gestorben, sondern entrückt worden, damit kann er auch wiederkehren.» Tatsächlich sind die letzten Worte des alten Testamentes (Mal. 3,23–24) die Verkündigung der Wiederkunft Elias, und bei den Königen (2 Kön 2,11) wird geschildert, wie Elia in einem feurigen Wagen entrückt wird. Es werden sogar Männer ausgesandt, die seinen Leichnam suchen sollen. Sie finden ihn aber nicht….
Es gibt zwar noch weitere Andeutungen im neuen Testament auf die Wiederverkörperung, aber sie sind noch weniger eindeutig. Deshalb kann man durchaus sagen: in der Bibel findet sich kein überzeugender Hinweis auf die wiederholten Erdenleben.
Im Gegenteil: Im 9. Kapitel des Hebräerbriefes entwickelt Paulus die Einmaligkeit des Todes und der Auferstehung des Christus – eine Darstellung die mit der Anschauung der wiederholten Erdenleben in vollem Einklang steht: Der Tod des Christus auf Golgatha war ein einmaliges Ereignis. In Jesus verkörperte sich der Christus als Sohn Gottes nur dieses eine Mal, nicht vorher und nicht später. Aber Paulus schreibt dann weiter: (Heb. 9,27) «Und wie es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, dann aber das Gericht: so ist Christus einmal geopfert, wegzunehmen vieler Sünden; als zweites wird er ohne Sünde erscheinen denen, die ihm nachfolgen, zur Erlösung.»
Hier gibt es zwei Möglichkeiten des Verständnisses: Der Mensch lebt – wie der Christus – nur ein einziges Mal auf der Erde und wartet dann im Himmel auf das Gericht. Ein ganz naheliegendes Verständnis.
Auf dem Boden der Wiederverkörperung und der Betrachtung des Lebens nach dem Tode ergibt sich aber noch eine weitere Möglichkeit. Das Gericht folgt nach jedem Sterben: Man stirbt nicht mehrmals, und dann kommt schliesslich das Gericht, sondern jedes Leben wird im Anschluß an den Tod gerichtet, ganz in dem Sinne, wie es im ersten Teil beschrieben ist: Im Blick auf den Christus erlebt man an seinen Taten, wie man hätte sein können, und wie man tatächlich war.
– Warum aber schweigt die Bibel so gründlich über die wiederholten Erdenleben?
Dazu ein berechtigter Einwand, den ein katholischer Geistlicher in seinem Vortrag über Wiederverkörperung machte: «Die Lehre von den wiederholten Erdenleben ist auch deshalb unchristlich, weil sie dieses, mein jetziges, einmaliges, besonderes Leben entwertet, indem es bloß noch eines unter vielen wird. Ich bräuchte dann mein jetziges Leben gar nicht ernst zu nehmen, wenn ich noch viele andere durchmachen muß.» Und diese Argumentation kann man sogar noch weiter führen: Der Mensch hätte sich nie so sehr als Einzelner erlebt, wenn er sein Leben nicht zwischen Geburt und Tod begrenzt erlebt hätte. Sind wir doch dadurch erst als Menschen zu Einzelpersönlichkeiten erwacht.
Im fernen Osten, etwa im Buddhismus, ist das Wissen um die wiederholten Erdenleben erhalten geblieben, aber dafür hat dort nicht diese Persönlichkeitsentwicklung zum Einzelmensch stattgefunden. Damit ist die Einsamkeit der Menschen durch die abendländische Kultur eine viel grössere als in der morgenländischen geworden. Wir erleben uns doch mehr und mehr isoliert von allen anderen Menschen. Extrem kann man diese Isolation erleben, wenn man schwer krank ist, oder wenn man gar glaubt, sterben zu müssen. («Jeder stirbt seinen Tod allein.»)
Diese Isolation hat aber auch eine gute Seite: So haben wir uns zur Freiheit entwickeln können. Denn Freiheit entsteht nicht da, wo Menschen in ihrer Umgebung ganz geborgen leben. Geborgenheit ist eine gute Vorbedingung um geistig gesund zu sein. Erwachen aber kann man nur an einem Hindernis, das einen von den Anderen trennt. Nur so findet man sich selbst und damit den Weg zur Freiheit.
Für einen weiteren Zugang zu dieser Frage sei hier eine kleine Betrachtung über drei Bilder der Bibel eingefügt.
Der Garten – die Wüste – die Stadt
Am Anfang der Bibel steht der Garten, das Paradies, in dem die Menschen noch gar nicht von ihrer Umgebung getrennt leben: Erst nach dem Sündenfall merken Adam und Eva, daß sie nackt sind. Waren sie das vorher auch und haben es nicht gemerkt? Nein: sie waren mit dem ganzen Garten bekleidet. Der ganze Garten war ihre Hülle.
Nun tratt aber die Schlange auf und verspricht Eva zwei Dinge: Ihr werdet sein wie Gott – und: Ihr werdet wissen von Gut und Böse.
– Hat die Schlange Eva belogen?
Nachdem also Eva und Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, werden sie vom Baum des Lebens getrennt. Aber sie beginnen wacher zu werden: Sie empfinden sich hüllenlos, nackt, und weiter entdecken sie, daß sie Gottes Gebot übertreten haben: Sie treten ein in die Welt von Gut und hier besonders von Böse.
Damit verwirklicht sich die zweite Prophezeihung der Schlange: «… und wissen von Gut und Böse» (1.Mose 3,5). Aber als Folge davon beginnt nun das Bild der Wüste für die Menscheitsentwicklung bestimmend zu werden: Jeder wird mehr und mehr Kenner von Gut und Böse, aber um den Preis, das wir unsere Welt verwüsten. Diese Entwicklung führt den Menschen in die Isolation. er trennt sich von allen anderen und wird «Einsiedler». Gleichzeitig aber wächst auch die Sehnsucht nach dem anderen Menschen. Diese Sehnsucht ist immer schwieriger zu erfüllen, weil auch die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, mehr und mehr verloren geht: Abstraktion von allem wird das unwilkürliche Entwicklungsmotiv.
Wie aber steht es mit der ersten Prophezeihung – Sein wie Gott? Hier steht nun in der Bibel das dritte Bild: Die Stadt – das neue Jerusalem. War der Garten von Gott geschaffen und dem Menschen geschenkt, so ist die Wüste durch den Menschen entstanden, aber er hat die Wüste nicht gewollt. Dennoch kann er in ihr reif werden, um nach seiner Einsicht zu handeln. Damit tritt er aber in das Reich der Freiheit ein: Man handelt nicht mehr, weil Gesetze dies oder jenes vorschreiben, sondern weil man die Notwendigkeit seines Tuns einsieht.
Dies ist ganz im paulinischen Sinne gemeint: Das Gesetz ist von Übel (Röm. 7,9): Wir suchen heute keine Gebote, die wir aus Tradition einhalten sollen. Vielmehr tragen wir die Richtschnur unseres Handelns in uns: Durch das Mysterium von Golgatha können wir in uns den Christus finden und mit ihm im Einklang handeln. (In diesem Sinne ist Paulus der erste und bedeutendste Anarchist). Indem wir beginnen so zu handeln, erfüllt sich die erste Prophezeihung der Schlange: Ihr werdet sein wie Gott. Denn da, wo der Mensch schöpferisch handelt, entfaltet er sein göttliches Wesen. (Allerdings ist wohl auch deutlich, daß wir bisher noch keine sehr bedeutenden Götter sind. Aber den Weg dahin können wir alle gehen.)
Das sind die Quellen aus denen die Stadt gebaut wird: Hier wirken Menschen aus freiem Entschluß zusammen, um nach göttlichem Plan die Stadt auf der Erde zu verwirklichen.
Damit wir im Gang durch die Wüste wirklich frei werden können, mußte das Wissen um die wiederholten Erdenleben verschwinden. Das ist auch der Grund, weshalb davon nichts in der Bibel zu finden ist.
– Aber warum soll gerade jetzt diese Lehre wieder in den Vordergrund treten?
Wenn wir den Zustand der abendländischen Menschheit betrachten, dann zeigt sich, daß die Entwicklung zu einer Perönlichkeit, die sich von allen Bindungen befreit, in der Gefahr steht, daß der Einzelne das Verhältnis zur Welt und zu den anderen Menschen verliert, daß wir uns in der Wüste völlig verirren. Der einseitige Blick auf das Materielle der Sinneswelt (z.B. in der Naturwissenschaft) hat dazu geführt, daß der Mensch in der Welt nur noch als Störfaktor vorkommt. Denn das heutige Wissenschaftsideal ist noch der unbeteiligte Beobachter. Er will sich nicht mit dem Geschehen verbinden, sondern aus der Distanz (Abstraktion) Fakten sammeln. Dabei gewinnt er die Macht der Technik und verliert sein seelisches Verhältnis zu dem, was er tut. Sein Handeln (und Erkennen) ist nicht mehr naturgemäß, sondern nur noch von der Machbarkeit bestimmt. Damit isoliert er sich aus der Natur und verliert im Blick auf diese «geistentleerte» Natur auch sich selbst, da er in dieser (technisierten) «Natur» nicht mehr vorkommt.
Nun kann der moderne Mensch dieses Verhältnis nur durch eine neue Verbindung mit der geistigen Welt wiedergewinnen: Ein Weg ist das Wissen um die wiederholten Erdenleben, weil hier jeder Einzelne seine Verbindung zum anderen Menschen aufsuchen kann und gleichzeitig den Zugang zur geistigen Welt gewinnt.
Christentum und
wiederholte Erdenleben
– Ist nun die Lehre von den wiederholten Erdenleben mit dem Christentum zu vereinbaren?
Der Vortrag des bereits erwähnten katholischen Geistlichen veranlasste mich in der nachfolgenden Aussprache folgende Frage zu stellen:
«Herr Pfarrer, nehmen wir einmal an, Sie seien gestorben. Sie kommen nun in den Himmel und finden dort eine Weggabelung: Der eine Weg führt in das Reich der Seeligen. Der andere Weg führt zurück zur leidenden Kreatur auf die Erde. Welchen Weg werden Sie wählen?» Seine Antwort: «Wenn ich mich dann noch so entscheide, wie ich mich jetzt entscheide, dann werde ich den Weg wieder zurück zur leidenden Kreatur nehmen, um ihr, so gut ich kann, zu helfen.» Ist eine solche Antwort nicht ein starkes Argument für den Sinn wiederholter Erdenleben?
Es gibt zwei sehr verschiedene Auffassungen der wiederholten Erdenleben und des Schicksals: Eine alttestamentliche Auffassung, die im «Auge um Auge – Zahn um Zahn» (2.Mos. 21,24) das unausweichliche Walten des Schicksals «bis in das dritte und vierte Glied» (2.Mos. 20,5) sieht, das unerbittliche Sühnen der begangenen Fehler. Diese Ansicht kann dazu führen, die Erde so bald wie möglich zu verlassen und sich wenn möglich nie wieder zu verkörpern, sondern im Nirwana, (d.h. in der Ewigkeit) zu bleiben.
Die Antwort des katholischen Geistlichen weist aber auf die neutestamentliche Sicht der wiederholten Erdeleben: Wir haben dadurch die Möglichkeit die Nachfolge Christi in immer neuen Leben mehr und mehr zu verwirklichen und mitzuarbeiten an der Erlösung der Kreatur (Röm. 8,19–24).
Wenn Christus uns auffordert (Joh. 13,34): «Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet, wie ich Euch geliebt habe…» oder (Math. 5,48) «Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.» – muss man sich dann nicht wünschen, daß man an diesem Ziel immer wieder arbeiten kann?
Vergebung der Sünden und Schicksal
– Wie verhält es sich nun mit der Vergebung der Sünden?
Dazu ein Gleichnis: Ein Vater hat einen Sohn. Dieser Sohn ist ein Taugenichts – ein «verlorener Sohn». Für jede Untat des Sohnes schlägt nun der Vater einen Nagel in die Tür. Schließlich ist die Tür so vernagelt, daß kaum noch Platz für weitere Nägel vorhanden ist. Da bekehrt sich der Sohn und beschließt alles wieder gut zu machen. Der Vater zieht nun für jede gute Tat des Sohnes einen Nagel wieder aus der Tür heraus. Und der Sohn bleibt beständig: es kann der Vater tatsächlich alle Nägel aus der Tür wieder herausziehen. Aber die Tür ist durchlöchert. Sie bleibt beschädigt, trotz aller guten Taten des Sohnes.
So ist es auch mit unseren «Sünden», durch sie werde nicht nur ich schlechter, sondern auch die Welt. Wenn ich nun versuche, das begangene Unrecht wieder gut zu machen, so ist ja doch nicht zu leugnen, daß durch meine Taten dennoch die Welt schlechter geworden ist. Für die Tilgung dieser Folgen kann Christus aufkommen, wenn man die Verbindung mit ihm sucht.
Ein zweiter Aspekt der Sündenvergebung liegt darin, daß das Schicksal, wenn es durch den Christus geordnet wird, immer Entwicklungskräfte in sich trägt. Das kann bedeuten, daß bestimmte Taten der Vergangenheit keine direkten Folgen in der Zukunft haben müssen. Das ist auch der Grund, daß die neutestamentliche Anschauung des Schicksals nicht nur leeres Gerede ist: Wer mehr und mehr lernt, sich als Mitarbeiter dem Christus zur Verfügung zu stellen, wird sehen, wie sich auch der Charakter seines Schicksals ändern wird. (Vgl. auch S. 15 ff)
Warum aber vergibt der Christus nur denen die Sünden, die an Ihn glauben? (vgl. z.B. Mark. 4.12) Müsste man nicht erwarten, dass Er allen Menschen ihre Sünden vergibt, so wie wir das doch auch tun sollen?
Wenn der Christus das tun würde, d.h. wenn der Mensch nie die Folgen seiner Taten zu verantworten brauchte, wie sollte sich er sich dann weiterentwickeln können? Gerade die Schuld ist ja der Antrieb, an sich zu arbeiten, um die Nachfolge Christi antreten zu können. Indem aber der Mensch zum Christus ein Verhältnis sucht, an Ihn glaubt, beginnt er eine innere Entwicklung. Diese Entwicklung kann den Menschen zum gleichen Ergebnis führen, wie die Entwicklung durch das Ausgleichen der Schuld, ohne allerdings erst das Schicksal des nächsten Lebens abwarten zu müssen.
Gibt es eine letzte Verkörperung?
– Wenn ein Mensch sich immer weiter zu seinem Besten entwickelt, muß er sich dann ewig wiederverkörpern?
Hier unterscheidet sich die abendländische Anschaung deutlich von der morgenländischen: Im Osten wird die Wiederverkörperung als eine Last empfunden, aus der man möglichst ausbrechen möchte, um in der geistigen Welt zu bleiben, und vor der Wiederkehr des ewig Gleichen bewahrt zu werden. Im Abendland dagegen ist das Verständnis der wiederholten Erdenleben mit dem Entwicklungsgedanken verbunden. Es ist nicht das ewige Kreisen ohne Ende, sondern der kreisenden Bewegung ist eine Fortentwicklung überlagert: eine Schraubenbewegung in die Zukunft. So wiederholt sich in jedem Leben Geburt, Kindheit, Reifealter usw. und dennoch sind die Verhältnisse von Leben zu Leben sehr verschieden. Ja man kann sogar sagen, eine neue Verkörperung wird erst sinnvoll, wenn sich die Erdenverhältnisse genügend gewandelt haben.
Aber auch die Erde wird sich entwickeln, sodaß Zeiten kommen, in denen sich die Menschen nicht mehr wiederverkörpern werden. (Vgl. Rudolf Steiner: Geheimwissenschaft im Umriß, s. S. 15) Allerdings läßt sich an unserem Grad der «Vollkommenheit» wohl ablesen, daß das noch nicht so bald sein kann.
– Und wenn ein Mensch diese Vollkommenheit schon viel früher erreicht?
Wenn er wirklich vollkommen ist, dann könnte er z.B. diese Vollkommenheit einem anderen zur Verfügung stellen und selbst dessen Schicksal auf sich nehmen, um ihm einen neuen Anfang zu ermöglichen.
Schicksal und Freiheit
Schon im Wort Schicksal liegt ein Verhältnis der Seele (Schicksal) zu dem, was sie trifft, was ihr geschickt wird (Schicksal). In diesem Sinne finden wir die Ereignisse vor und können sie im Moment nicht selbst bestimmen oder ihnen ausweichen. Hier gibt es also keine Freiheit, sondern es vollzieht sich Notwendigkeit.
Nun arbeiten wir den Plan der Ereignisse aber selbst mit aus (vgl. S. 7). Damit sind wir in einer ähnlichen Lage, wie einer, der sich ein Haus baut und sich damit «unfrei» gemacht hat, indem er nun in sein Haus auch einzieht.
Das ist aber nur die eine Seite. Man kann doch beobachten, wie das Schicksal uns nur in eine Situation hineinführt. Daß aber dann ganz offen ist, was wir daraus machen. Hier liegt die Möglichkeit zum freien Handeln: Mein Schicksal stellt mir durch die Lebensitutation eine Frage. Wie ich diese Frage beantworte, liegt nicht vorher fest. Je nach dem, wie meine Antwort ausfällt, werden sich die nächsten Ereignisse einrichten.
Eine typische Situation dafür ist eine Heirat: Die Zusammenführung geschieht aus Schicksalskräften (öfter auch dadurch, daß ein Kind Eltern haben will, vgl S.14), die Ehe ist aber davon abhängig, wie beide gemeinsam miteinander weiterleben und aneinander arbeiten wollen.
Hier liegt auch eine Gefahr der Anschauung der wiederholten Erdenleben: Manche Ehe zerbricht, weil einer der Beiden sagt: Jetzt erst habe ich den Menschen kennen gelernt, den ich vom Schicksal her hätte heiraten sollen. Daß das ein Irrtum ist, zeigt schon die einfache Erfahrung: Man begnet im Leben u.U. mehreren Menschen, die man hätte heiraten können. Die Kunst besteht doch darin, zu diesen Menschen eine Beziehung aufzubauen, ohne daß dadurch die Schicht der Ehe gefährdet wird.
Eine dritte Seite dieses Themas sind die freien Taten, die ihrerseits Schicksal schaffen: Wenn wir aus freier Initiative heraus etwas machen, was nur dadurch in die Welt tritt, daß wir das aus eigenem Entschluß ausführen, aber nicht weil uns irgend etwas dazu nötigt, dann sind dies Taten, die sich nicht aus dem vergangenen Schicksal ergeben. Sie werden erst in der Zukunft Schicksal zur Folge haben.
Insofern können wir unterscheiden: wir werden einerseits in eine Situation geführt, an deren Ausgestaltung wir vor der Geburt mitgearbeitet haben. Wie wir in dieser Situtation handeln liegt noch nicht fest. Andererseits können wir auch handeln, ohne daß für diese Handlung eine Schicksalsnotwendigkeit vorliegt.
Schicksal und Seelenpflegebedürftige
Bisher bin ich immer davon ausgegangen, daß jeder sein Schicksal als Prüfung auffassen und daran arbeiten kann. Aber das ist ja für keineswegs für alle Menschen der Fall.
– Wie liegen die Verhältnisse nun, wenn ein Mensch in diesem Sinne nicht in der Lage ist an seinem Schicksal zu arbeiten?
Denken wir etwa an einen Menschen, der das Schicksal hat, als Mongoloider auf die Welt zu kommen, der also auf die Liebe und Unterstützung seiner Umgebung ganz und gar angewiesen ist.
Hier kann ein Hinweis Rudolf Steiners hilfreich sein. Er fand bei seinen geisteswissenschaftlichen Untersuchungen bei bedeutenden Persönlichkeiten frühere Verkörperungen oft sog. «Trottel»-Verkörperungen, also Verkörperungen (Inkarnationen), bei der die Individualität in dem betreffenden Leben ganz auf den Schutz der Umgebung angewiesen war. Dadurch konnte sich dieser Mensch mit den Liebe-Kräften seiner Umgebung «imprägnieren». In der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt, wurden dann diese Kräfte in Fähigkeiten umgewandelt, die nun dem Menschheitsfortschritt dienen können.
Daher wird in der anthroposophischen Heilpädagogik versucht, die Seelenpflege Bedürftigen möglichst intensiv in einer solchen liebevollen Atmosphäre zu betreuen. Und oft wird dort die Erfahrung geschildert, wie in einem ganz eigentümlichen Leib immer wieder ein Wesen durchscheint, das solche Zukunftshoffnungen stärkt.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist es für das sich so verkörpern wollende Wesen eine ausserordentliche Tragik, wenn ihm seine Inkarnation durch eine Abtreibung verwehrt wird. Die Abtreibung erbkranker Kinder richtet in diesem Sinne grosses Unheil an. Überhaupt wird durch eine Abteibung ein Jahrzehnte langer Prozeß der Vorbereitung einer Inkarnation zunichte gemacht, der die sich verkörpern wollende Seele zwingt, kurzfristig nach einer anderen für sie viel ungünstigeren Möglichkeit der Verkörperung suchen zu müssen.
Warum müssen so viele Kinder sterben?
Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, dennoch sei hier ein Versuch gewagt, der vielleicht etwas Licht auf dieses Gebiet werfen kann.
Wir haben bisher nur das persönliche Schicksal betrachtet. Neben dieser Schicht gibt es aber auch Schichten, in die das individuelle Schicksal eingebettet ist: Schicksal in das ganze Menschengruppen verwoben sind, z.B. Völkerschicksale (etwa das Schicksal der Juden und Deutschen) darüberhinaus gibt es auch Schicksal, daß durch eine bestimmte Zeitepoche geprägt wird und die ganze Menschheit betreffen kann. In diese Schicht gehört beispielsweise der Materialismus der Gegenwart. Seine Aufgabe, die Menscheit mit der Erde zu verbinden («Machet euch die Erde untertan») hat er erfüllt, dennoch ist er dadurch nicht überwunden.
Wenn man nun versucht, die Kräfte zu skizzieren, aus denen der Materialismus mit seiner Erkenntnismethode der Analyse groß geworden ist, so zeigt sich, daß hier mit Kräften gearbeitet wird, die in der Natur immer dann wirksam werden, wenn Tod und Vergehen eingeleitet werden. Das zeigt sich z.B. daran, daß man die Struktur, das Gerüst etwa eines Buchenblattes am besten sehen kann, wenn es im Herbst verwelkt ist. In seiner Bildungsphase im Frühjahr sind nicht die Einzelheiten maßgebend, sondernd das Blatt entfaltet sich aus einem ganzheitlichen Prozeß. so stehen Synthese (im Bilden und Wachsen) der Analyse (im Verwelken und Zerfallen) gegenüber.
Auch das klare Wachbewußtsein des Menschen beruht auf solchen Zerfallsprozessen. Deshalb können wir nicht beliebig wach bleiben, sondern suchen im Schlaf Prozesse auf, die die leibliche Grundlage des Bewußtseins wieder aufbauen.
Nun würde das menschliche Bewusstsein durch die Anwendung dieser analytischen Kräfte auf lange Zeigen gesehen immer mehr selbst diesen Kräften unterworfen und sklerotisieren. Das hätte zur Folge, daß eine fruchtbare Weiterentwicklung der Menschheit in Frage gestellt würde, weil alle für eine Weiterentwicklung notwendigen Lebenskräfte verdorren müssten.
Damit dieses Verdorren nicht eintritt, wird ein grosses Maß an Lebenskräften gebraucht. Diese Kräfte werden frei, wenn Kinder früh sterben, weil sie ihre Lebenkräfte in ihrem kurzen Leben nicht verbrauchten. Dadurch wird ein Überhandnehmen der «Menschheitssklerose» eingedämmt. Unsere materialistische Kultur lebt gewissermassen auf Kosten der früh sterbenden Kinder.
Das lässt sich auch innerhalb der Wirtschaft wiederfinden: Der reiche Norden lebt seine materialistische Überflussgesellschaft auf Kosten des Südens, wo Hunger und Armut zu hoher Kindersterblichkeit führt.
Selbstmord
Vom Gesichtspunkt der wiederholten Erdenleben gibt es kaum eine grössere Illusion, als zu glauben, man könne durch Selbstmord seinem Schicksal entgehen. Im Gegenteil: Auf den Selbstmörder kommt nach dem Tode mit der ganzen Kraft seines nun nicht mehr ausgelebten Schicksals der Vorwurf zu, Götterwerk zunichte gemacht zu haben. Denn es waren ja hohe geistige Wesen, die mit uns zusammen vor diesem Leben unser Schicksal gestaltet haben.
Lindern kann man seine Qualen, wenn man in liebevollen Gedanken sich mit ihm verbindet. (Sprüche, die für eine solche Verbindung hilfreich sein können: s.S. 15).
Zunahme der Weltbevölkerung
– Wo kommen die Seelen her, wenn die Weltbevölkerung zunimmt?
Auch diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, denn einerseits ist das Jahrtausendende eine Zeit, die viele miterleben wollen. Dadurch verkürzen sich gegenwärtig die Abstände zwischen zwei Verkörperungen, die sonst nach Jahrhunderten zählen. Andererseits gibt es auch sog. junge Seelen, d.h. Seelen, die erst auf verhältnismässig sehr wenige Verkörperungen zurückblicken. Beides führt zu einer Zunahme der Erdbevölkerung. Wie sich das weiterentwickeln wird, ist schwer vorherzusagen. Rechnerisch ist zwar ein stark zunehmendes Wachstum der Anzahl der Menschen auf der Erde vorhersehbar. Wie weit aber die Erde selbst diese Entwicklung ermöglichen wird, ist eine offene Frage. So stellt sich etwa die Frage: können alle Menschen ernährt werden?
Wie kommt man zur Erfahrung
der früheren Erdenleben?
Bisher habe ich nur Erlebnisse beschrieben, die hinweisen können darauf, daß es wiederholte Erdenleben gibt.
– Gibt es aber auch eine unmittelbare oder wenigstens mittelbare Erfahrung eigener früherer Erdenleben?
Um solche rein geistigen Erfahrungen machen zu können, bedarf es einer Schulung, durch die sich die (geistigen) Wahrnehmungsorgane bilden, die dann diese Erfahrungen vermitteln können. Eine Einführung in einen solchen Schulungsweg ist in den Schriften Rudolf Steiners gegeben (vgl. Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? s. S. 15). Dort ist beschrieben, wie man mit Hilfe von Meditationsübungen diese Organe ausbilden kann. Wie eine unmittelbare Erfahrung selbst aussehen kann, ist im zweiten Mysteriendrama «Der Hüter der Schwelle» (s.S. 15) von Rudolf Steiner beschrieben.
Diese Übungen führen auch dazu, aufmerksamer auf die Ereignisse des Lebens zu schauen. Wenn man ausserdem die Gesetzmässigkeiten des Schicksals (Karma) in der Literatur studiert und sich unter diesem Gesichtspunkt eine gute Geschichtsanschauung aneignet, dann darf man darauf hoffen, wenn man wirklich ernsthaft an diesen Fragen arbeitet und nicht nur aus Neugier, daß dann das Schicksal einen so führt, daß ihm Ereignisse begegnen, die ein Licht auf die eigene Vergangenheit werfen können.
Allerdings ist für die Arbeit auf diesem Felde ein gesundes Mißtrauen gegen die eigenen Wünsche erforderlich. Zu gern möchte man doch in der Vergangeheit etwas Besonderes gewesen sein. Und Wünsche können auf diesem Gebiet die gleiche Wirkung haben wie Projektionen in der Psychologie: Man sieht, was man wünscht. Nur hat das mit der Wirklichkeit wenig zu tun.
Wenn man nun tatsächlich meint, sich für die Wiederverkörperung einer bedeutenden Persönlichkeit der Vergangenheit halten zu müssen, so kann man das u.U. daran prüfen, ob man demgegenüber Scham empfindet, dieser Vergangenheit im gegenwärtigen Leben nicht genügend gerecht geworden zu sein. Wenn diese Scham nicht auftritt, dann sollte man den Verdacht auf eine Wunschvorstellung streng prüfen.
Ein unbeirrbarer Wahrheitssinn ist jedenfalls eine notwendige Voraussetzung für solche Forschungen.
Weiterführende Literatur
Über Rudolf Steiner:
Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner
Grundwerke der Anthroposophie:
Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten, Dornach 1982, Bibl.-Nr. 10
Rudolf Steiner, Theosophie, Dornach 1978, Bibl.-Nr. 9
Rudolf Steiner, Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1981, Bibl.-Nr. 13
Über Wiederverkörperung und Schicksal:
Rudolf Steiner, Vier Mysteriendramen, Dornach 1981, Bibl.-Nr. 14
Rudolf Steiner, Reinkarnation und Karma, Dornach
Rudolf Steiner: Offenbarungen des Karma, Dornach 1975 Bibl.-Nr. 120
Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, I-VI, Dornach 1975-1981, Bibl.-Nr. 235-240
Über die Verbindung zu den Toten:
Rudolf Steiner: Unsere Toten, Dornach 1963, Bibl.-Nr. 261
Rudolf Steiner: Verbindung zwischen Lebenden und Toten, Dornach 1984, Bibl.-Nr. 168